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FDR & Alter Ego
8. Mai 1942
May 8, 1942
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USA 1942 - 2002

 

Eine Rede am 8. Mai:

Henry Wallace, ein Alter Ego Franklin Delano Roosevelts, 1942 im New Yorker Madison Square Garden und die Zwerge in beider Schatten

Von David Hartstein

 

Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, um eine vollkommenere Union zu bilden, um Gerechtigkeit zu begründen, um die Ruhe im Innern zu sichern, um für die gemeinsame Verteidigung Vorkehrung zu treffen, um das Gemeinwohl zu befördern und uns und unseren Nachkommen die Segnungen der Freiheit zu sichern, erlassen und errichten diese Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.

 Dem amerikanischen Präsidenten steht die anstrengendste Woche seiner Karriere im Weißen Haus bevor. Er muß sich auf direkte Gespräche mit zwei Gästen vorbereiten, die ihm die Katastrophenlage in Palästina aus nicht gegensätzlicher denkbaren Sichten darzulegen versuchen werden. Am Dienstag wird ihm Sharon einzureden versuchen, warum Arafat unter keinen Umständen als maßgeblicher Verhandlungspartner bei irgendeiner fernen Konferenz in Erwägung gezogen werden dürfe. Zwei Tage später wird der jordanische König Abdullah, entgegen seiner Gewohnheit, etwas langsamer sprechen müssen, um dem amerikanischen Präsidenten klarzulegen, wie bedrohlich das Vorgehen der israelischen Makkabäer vor allem für sein Land und nicht zuletzt für den gesamten Nahen Osten und die arabische Welt ist. Problem Israel. Problem is real.

 Bis zum 11. März konnte der Präsident noch in den Erfolgen des virtuellen Krieges gegen den Terror baden. Seit dem verwüstenden Einmarsch des israelischen Militärs in Rest-Palästina hat ihn (wie auch seine amerikanischen Landsleute, insbesondere seit die „globale Kamera“ der Reiseroute des Außenministers Powell durch das Kriegsgebiet folgen mußte) die Realität des Terrors ebenso wie die der terroristischen Kriegführung in Palästina auf den Boden der globalen Tatsachen zurückgeholt.

 Bis dahin konnte man von den aus Washington entspringenden Darbietungen, Mythen, Drohungen und Wahnvorstellungen manchmal den Eindruck gewinnen, daß die Präsidentschaft des George W. Bush nur als Nachspiel des Librettos „Absolutely Free“ der „Mothers of Invention“ Frank Zappas zu verstehen wäre. Genügend „Plastic People“ als Komparsen sind ja in Washington zum Mitspielen bereit – wie erst letzte Woche die Mehrheit der beflissenen US-Abgeordneten mit ihrer Resolution zu Israel bewiesen hat.

 Seit dem Besuch des saudischen Kronprinzen Abdullah wird aber von Bush dem Jüngeren ernsthaft und mit nicht geringen Hoffnungen erwartet, daß er den vorbereitenden Gesprächen, Ideen und Vorhaben des sogenannten Quartetts (USA, Rußland, Vereinte Nationen und EU) ein Ziel setzt, das für die beiden Seiten des Konfliktes, Israel auf der einen, Arabische Liga und Palästinenserführung auf der anderen Seite Gegenstand von Verhandlungen für einen Frieden sein kann.

 Präsident Bush muß sich, noch bevor Sharon zum Gespräch bei ihm eintrifft, mitsamt seinen polyphonen Beratern mit der Frage auseinandersetzen, wie dem israelischen Kriegspremierminister unmöglich gemacht werden kann, was der israelische Militärhistoriker van Creveld im Daily Telegraph als Sharons wahrscheinlichen Plan zu bedenken gegeben hat: die endgültige Austreibung der Palästinenser aus dem besetzten Gebiet der Westbank nach Jordanien. Wenn Bush dafür keine Lösung findet, Sharon nicht direkt danach fragt und die Antwort dann der Weltöffentlichkeit kommuniziert, ist die Explosion des Pulverfasses Nahost nicht mehr aufzuhalten.

 Der jordanische König wiederum wird dem amerikanischen Präsidenten genau diese Möglichkeit mit allen Konsequenzen vor Augen führen müssen, wenn er wenige Tage später ebenfalls zum direkten Gespräch mit George W. Bush beisammensitzt.

8. Mai 1945 - 1985

 Zwischen diesen beiden Terminen liegt der 8. Mai, Jahres- und Gedenktag des Sieges in einem Krieg, in dem die Vereinigten Staaten so unzweideutig wie nie seither im Einklang mit den Zielen ihrer Verfassung die Niederlage der Tyrannei des Hitler-Regimes über Europa zu feiern pflegen.

 In Deutschland hat es lange – vierzig Jahre – gedauert, bis ein Staatsoberhaupt öffentlich anzuerkennen wagte, daß auch das Land, in dessen Namen die nationalsozialistische Herrschaft ihren Herrenwahn durch ganz Europa toben ließ, zuletzt an jenem 8. Mai 1945 von den Siegern, insbesondere von den Soldaten der amerikanischen Republik, befreit worden ist. Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker bemerkte in dieser im Bundestag 1985 gehaltenen Rede auch:

Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.

 Der „Irrweg deutscher Geschichte“ war ein Unterschied ums Ganze zwischen den Verlaufslinien der Bewältigung der Krise der Interessendemokratie (Paul Sering, d. i. Richard Löwenthal) in der weltwirtschaftlichen Depression in Deutschland und in den Vereinigten Staaten. Der Unterschied ums Ganze – und damit der Entstehungsgrund des Krieges der Vereinigten Staaten gegen Hitler-Deutschland – kam zu seinen polaren Programmen und zu deren Proklamation in den ersten drei Monaten des Jahres 1933. Während Hitler und seine Terroristenmannschaft sich mit dem „Ermächtigungsgesetz“ Deutschland unterwerfen konnten, reifte unterdessen in den USA ein „New Deal“ heran, dessen Grundsätze Franklin Delano Roosevelt in seiner Antrittsrede am 4. März 1933 als neugewählter Präsident unter anderem so beschrieb:

„Lassen Sie mich zuallererst meine feste Überzeugung bekräftigen, daß das einzige, was wir zu fürchten haben, die Furcht selber ist – namenloser, unbegründeter, ungerechtfertigter Terror, der die nötigen Anstrengungen lähmt, mit denen ein Rückzug in Vorwärtsmarschieren umgewendet werden kann...“
„Die Geldwechsler sind von ihren hohen Thronen im Tempel unserer Zivilisation geflohen. Nun können wir diesen Tempel den alten Wahrheiten gemäß wieder herrichten. Der Maßstab dieser Wiederherrichtung liegt in dem Maß, mit dem wir sozialen Werten mehr Adel zusprechen als bloßem Geldgewinn.“
„Glück ist nicht zu finden im bloßen Besitz von Geld; es liegt in der Freude darüber, etwas erreicht zu haben, in der Aufregung bei einer schöpferischen Bemühung ... Unsere vorrangigste Aufgabe ist es, die Leute in Arbeit zu bringen. Das ist kein unlösbares Problem, wenn wir es weise und mutig angehen. Zum Teil kann es dadurch erreicht werden, daß die Regierung selbst diese Aufgabe übernimmt und so verfährt, als ginge es um einen Ausnahmezustand wie im Krieg.“

 Nach Darlegung der Vollmachten, die er unter Wahrung der Verfassung vom Kongreß zur Behebung des wirtschaftlichen Notstands zu fordern beabsichtigte, beschrieb er die zu treffenden Maßnahmen, „als müßten wir einen eingedrungenen Feind bekämpfen“.

„Charity – in the true spirit of that grand old word. For charity, literally translated from the original, means love, the love that understands, that does not merely share the wealth of the giver, but in true sympathy and wisdom helps men to help themselves.
We seek not merely to make government a mechanical implement, but to give it the vibrant personal character that is the very embodiment of human charity.
We are poor indeed if this nation cannot afford to lift from every recess of American life the dread fear of the unemployed that they are not needed in the world. We cannot afford to accumulate a deficit in the books of human fortitude.
Governments can err, Presidents do make mistakes, but the immortal Dante tells us, that Divine justice weighs the sins of the cold-blooded and the sins of the warm-hearted in different scales.
Better the occasional faults of a government that lives in the spirit of charity, than the consistent omissions of a government frozen in the ice of its own indifference. ... To some generation, much is given. Of other generations, much is expected. This generation of Americans has a rendezvous with destiny.“

FDR upon renomination as Presidential candidate 1936

 Der Unterschied ums Ganze zwischen Nationalsozialismus und New Deal war unter anderem auch dies: Während das Regime der Nationalsozialisten die Gemeinheit des kleinen Mannes förderte oder erzwang und die öffentliche und soziale Freiheit erwürgte, trachtete der New Deal danach, dem gemeinen Mann zur Freiheit von der Not zu verhelfen, damit eine jede und ein jeder die in der amerikanischen Verfassung verbürgten Freiheiten öffentlich und sozial wahrnehmen konnten.

8. Mai 1942

 Die amerikanische Republik, dieses auf ein Prinzip, eine Idee gegründete Projekt (wie es zum Beispiel Ekkehart Krippendorf in seinem Essay zur „Gettysburg Address“ von Abraham Lincoln treffend zusammenfaßt), ist heute schon sehr weit auf einen „Irrweg der Geschichte“ abgekommen, wenn sich Lautsprecher der Eliten wie beduselte Zecher an der Bar darüber vernehmen lassen, wie ein Imperium der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert auszusehen und welche Kriege es dafür zu führen hätte. Vor lauter boozing mit dem Fusel der einzigen Weltmacht verdrängt diese angesäuselte Hybris, daß von allen insolventen Souveränen das Gemeinwesen der USA das allerinsolventeste ist, dessen bislang noch erfolgreiche „Überdehnung“ darin besteht, den Dollar-Wertpapier- und Geldvermögensbesitzern auf diesem Globus vorzutäuschen, daß sich gegen alle diese Papierwerte jederzeit wirkliche Werte eintauschen ließen. Ein imperialer Tagtraum aus dem Reich des spekulativen Empirismus.

 Weit wahrscheinlicher als der Anbruch eines neuen (amerikanischen) imperialen Zeitalters erscheint heute, daß die Vereinigten Staaten nach so manchem militärisch überlegen und siegreich geführten, doch letztlich nicht gewonnenen Krieg der letzten mehr als 50 Jahre, und vor allem nach dem Sieg im kalten Krieg nicht etwa das „Ende der Geschichte“ erreicht haben, sondern auch noch und dann für immer den einzig entscheidenden Sieg für die Freiheit, den sie am 8. Mai 1945 gegen die Tyrannei in Europa errungen zu haben scheinen, verspielen werden. Im Madison Square Garden stellte Henry A. Wallace, Vizepräsident der USA von 1940 - 1944, zu den Zielen des Krieges gegen Hitler-Deutschland fest:

Wir sind gescheitert an unserer Aufgabe nach Weltkrieg I. Wir haben keinen dauerhaften weltweiten Frieden zu stiften gewußt. Wir hatten den Nerv nicht, das Ziel zu verfolgen, Deutschland an der Wiederbewaffnung zu hindern. Wir haben nicht darauf bestanden, daß es "Krieg nicht mehr lernt“. Wir haben keinen Friedensvertrag auf der Grundlage der Lehre der Volksrevolution geschlossen. Wir waren nicht mit ganzem Herzen bestrebt, eine Welt zu schaffen, in der es die Freiheit von der Not für alle Völker geben könnte. Aber gerade durch unsere Irrtümer haben wir gelernt, und nach diesem Krieg werden wir in der Position sein, Gebrauch zu machen von unserem Wissen vom Aufbau einer Welt, die wirtschaftlich, politisch, und, so hoffe ich, geistig gefestigt ist.

 Das gegenwärtige verantwortliche Amerika hinterläßt nicht den Eindruck, von solchem Wissen Gebrauch machen zu können. Dennoch erwartet die Welt eben dieses Bestreben, eine Welt zu schaffen, in der es „die Freiheit von der Not“ für alle geben kann, von gerade der mächtigsten Institution dieser Welt, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, auch wenn sie von einer Persönlichkeit besetzt ist, der es in Zeiten der „Globalisierung“ am Nötigsten, der Weltkenntnis, mangelt.

 Das „amerikanische Jahrhundert“ neigt sich vielleicht seinem Abgang zu, das „Jahrhundert des gemeinen Mannes“, das Henry Wallace am 8. Mai 1942 in seiner Rede „The Price of Free World Victory“ seinen Zuhörern als „Kriegsziel“ des Zweiten Weltkrieges vorgezeichnet hat, muß erst noch für alle Weltbürger gewonnen werden. – Die Alternative zu der neuen Weltordnung, die der Vater des gegenwärtigen US-Präsidenten am 11. September 1990 in einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses zu begründen wähnte, ist heute wie vor 60 Jahren in der Rede von Henry Wallace in aller Klarheit und Kühnheit dargelegt. Amerika und die Welt haben sowohl dieses Alter Ego Roosevelts als auch die Ziele des New Deal bis heute verdrängt, mit aller Macht aus dem Gedächtnis entfernt. Mögen diejenigen, die diese Rede noch nicht kennen und nahezu unbefangen zum ersten Mal lesen, darüber entscheiden, welche Ideen der amerikanischen Verfassung näher kommen: das „Zeitalter des gemeinen Mannes“ oder die „Neue Weltordnung“. Im innerdeutschen und emigrierten Widerstand gegen die Hitlerdiktatur wurde in den dreißiger Jahren in der deutschen Arbeiterbewegung diese Entscheidung getroffen. Sie nannte sich programmatisch und hoffend zugleich: Neu Beginnen.